Die Geschichte vom Nikolaus kursiert heutzutage in vielen unterschiedlichen Varianten. Kinder und Erwachsene hören sie und machen sich ein gewisses Bild vom Mann im roten Mantel. Dass der Nikolaus nicht nur eine mystische, sondern tatsächlich eine historische Figur ist, möchten wir Ihnen nicht vorenthalten. Wir hoffen, dass Sie ein wenig aus der Geschichte für sich mitnehmen können, und wünschen Ihnen eine frohe Adventszeit.
In der von Wohlstand verwöhnten Stadt Patara in der Türkei lebte einst ein Junge mit dem Namen Nikolaus. Seine Eltern waren wie alle anderen sehr reich und boten ihrem Sohn alles, was er benötigte, und vieles darüber hinaus. Als sie plötzlich an einer schweren Krankheit verstarben, ergriff ihn tiefste Trauer. Weder seine Bediensteten noch all sein Reichtum, den er erbte, konnten ihn über seinen Verlust hinwegtrösten. All sein Hab und Gut waren doch nur glanzvoller Tand, mit dem er seine Eltern nicht wieder ins Leben zurückholen konnte.
Das viele Weinen machte ihn müde. Gerade als er zu Bett gehen wollte, stieß er versehentlich gegen einen Krug und zerbrach ihn. Die darin liegenden Schriftrollen breiteten sich zu seinen Füßen aus. Er hatte sie zuvor nie bemerkt. Er griff nach einer Schriftrolle und öffnete sie. Darin stand folgende kleine Geschichte:
„Da war ein reicher Mann, der lebte herrlich und in Freuden. Da war aber auch ein Armer, der lag hungernd vor seiner Tür und wollte nur Brotsamen, die den Reichen vom Tische fielen. Doch diese gönnten die Reichen dem Armen nicht. Als der Arme starb, wurde er von den Engeln in den Himmel getragen. Auch der Reiche starb. Doch es kamen keine Engel, ihn zu holen.“
Ergriffen von der Botschaft der Geschichte versank er in seinen Gedanken. Wer war er? Er, der alles besaß, aber letztlich tatenlos zusah, wie um ihn herum so viele Menschen Hunger litten. Er war nicht besser als der reiche Mann in der Geschichte.
So beschloss er, seinem Leben eine deutliche Wendung zu bescheren. Am nächsten Tag stand er früh auf und suchte die Armen und Bettler in seiner Stadt auf. Er verließ den Palast seiner Familie unentdeckt und streifte durch die Straßen. Vor dem Tor der Stadt fand er das, wovor ihn sein Reichtum immer bewahrte: Krankheit, Hunger, Not und Elend. Die Bettler erblickten Nikolaus und streckten ihm die schmutzigen Hände hin. Mit einem Griff in seine Taschen wollte er ihnen Geld geben. Doch wo er hingriff, waren keine Taschen. An den edel bestickten Kleidern fehlte jedes Behältnis.
Also gab er ihnen, was er bei sich trug. Seine Kette aus purem Gold, sein goldener Ring und sein Gewand legte er ab und gab es den Armen. Die Freude in den Augen der Bettler, gemischt mit ein wenig Verwunderung, erwärmten sein Herz. Erfüllt vom Glück, anderen Menschen zu helfen, die weit weniger besaßen als er, trat er seinen Heimweg an. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Eltern konnte er wieder lächeln. Es war ein schönes Gefühl.
Sogleich wies er seinen Hofschneider an, seine Gewänder mit Taschen zu versehen. Es sollten große Taschen werden, in denen er viel mit sich tragen konnte. Der rote, weite Mantel war zuerst fertig. Freudig legte Nikolaus ihn an und spazierte durch seinen prunkvollen Garten. Die Äpfel, Mandarinen und Nüsse um ihn herum las er auf und steckte sie in die großen, roten Taschen. Noch einmal stahl er sich aus seinem glänzenden Palast und suchte die Bettler der Stadt auf. Die Mandarinen, Äpfel und Nüsse verteilte er unter ihnen und sah erneut Freude und Verwirrung zugleich in ihren Augen. So verging Tag für Tag und an jedem Morgen in der Frühe beschenkte er die armen Menschen seiner Stadt. Die Trauer um den schmerzlichen Verlust seiner Eltern war verschwunden.
Mit dem Beginn seines zwölften Lebensjahres wurde er in einer angesehenen Schule im Verstehen der heiligen Schrift unterrichtet. Natürlich durften ihn nur die besten Lehrer dort unterrichten. Heimlich verteilte er seine Geschenke unter den Armen, wo auch immer er sie antraf. Keiner der anderen reichen Stadtbewohner sollte erfahren, was er tat. „Sie würden es ohnehin nicht verstehen“, dachte er bei sich. In einem Gottesdienst in der Stadtkirche verlas der Priester gerade eine Passage der Bibel. Es waren die Worte, die Jesus einst zu einem reichen Knaben sprach:
„Willst du mir angehören, so verschenke alles, was dir gehört, an die Armen.“
Es waren die Worte, die Nikolaus schon oft bedacht hatte. Doch jetzt, da er sie erneut hörte, war er mehr und mehr von ihnen ergriffen.
So wies er seine Bediensteten an, sein Geld und alles Hab und Gut an die Armen zu verteilen. Er wollte ins heilige Land reisen. Dorthin, wo Christus gelebt hatte. Auf seiner Reise musste Nikolaus schwere Zeiten durchmachen. Er erlitt viele Verletzungen und geriet mehrfach in große Gefahr. Das Leben außerhalb seiner edel verzierten Mauern kannte er bis dahin nicht. Nun war es ihm in aller Deutlichkeit bewusst geworden. Doch obwohl er so unglaublichen Hunger litt und es weit und breit nichts zu essen oder zu trinken gab, konnte er noch immer lächeln. In jeder Stadt, die er passierte, las er den Kindern aus der Bibel vor.
Nach einigen Jahren der beschwerlichen Reise kam er wieder in seine Heimatstadt zurück. Dort war zuvor der alte Bischof verstorben. Die Leute erblickten den Mann in seinem roten Gewand und fragten ihn, wer er sei. Seine Antwort war kurz und eindrucksvoll.
„Ich bin Nikolaus, ein Diener Christi.“
Diese Worte haben die Menschen scheinbar überzeugt. Sie nahmen ihn mit in die Kirche und ernannten ihn dort zum neuen Bischof. Vor der Kirche war sein alter, grauer Esel angebunden. Nikolaus freute sich darüber, seinen alten Begleiter wieder zu sehen und nahm ihn fortan auf all seinen Wegen mit.
Als neuer Bischof sorgte Nikolaus für die Menschen um ihn herum. Er sah sich als Hirte, der seine Schafe versorgte. Selbst in schwierigen und gefährlichen Zeiten predigte Nikolaus und festigte die Menschen in ihrem Glauben. An seinem Geburtstag legte er seinen roten, weiten Mantel an und füllte einen großen Sack mit Äpfeln, Mandarinen, Nüssen und Honigkuchen. Diesen lud er seinem Esel auf und verteilte die Gaben an die Stadtbewohner. Sein Geburtstag wurde zu einem großen Fest für alle Menschen. Niemand sollte Hunger leiden, wo er wandelte. Nikolaus verteilte die Geschenke an seinem Geburtstag, bis er selbst ein alter Mann war. In der Stunde vor seinem Tod, am 6. Dezember des Jahres 352, bereute er nur, dass er seine Schafe verlassen musste.
Noch heute gedenken die Menschen seines Lebens und feiern den Nikolaustag in seinem Namen. Er gilt gemeinhin als der Vorbote des Weihnachtsfestes. Die mit Mandarinen, Nüssen und Äpfeln gefüllten Stiefel der Kinder sind aber nicht allein sein Vermächtnis. Es ist der Gedanke, die Menschen zu beschenken, die weniger besitzen als man selbst. Das Verschenken selbst kleiner Dinge kann mehr Freude machen als aller Besitz im eigenen Haus. Das ist für uns der eigentliche Sinn von Weihnachten, an den wir uns jedes Jahr wieder erinnern möchten.